Predigt Jesja 29,17-24

12. Sonntag nach Trinitatis, 27. August 2023, Schlosskirche Friedrichshafen

Liebe Gemeinde,

sehen Sie den Sportlerinnen und Sportler bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Budapest am Bildschirm zu? Vor dem Start, vor dem Wurf, vor dem Sprung sind sie höchst konzentriert:  Oft nehmen sie die Bewegungsabläufe schonmal vorweg, gehen in Gedanken jeden Schritt durch. Diese Vorwegnahme wird auch „Antizipation“ genannt.

Um Antizipation, um Vorwegnahme von etwas Kommendem geht es auch im heutigen Predigttext. Hören wir den Predigttext für den heutigen 12. Sonntag nach dem Dreieinigkeitsfest.

  • Jesaja 29,17-24 – gelesen

In nahezu jedem Nachrichtenportal ist zu lesen oder zu hören: Verdorrte Landstriche brennen, Menschen verschließen Ohren und Augen vor der Wirklichkeit. Macht wird missbraucht: Von Tyrannen und Machteliten, von Funktionären mitten im Fußballstadion. Sprechen diese Wahrnehmungen dem alten, überlieferten Text nicht Hohn? – Der Text des Prophetenbuches ist weit älter als 2000 Jahre. Und viele fragen sich zu Recht:

Wer nimmt denn Verstand an? Wie lange braucht die Menschheit, um mit der Schöpfung zu leben und nicht gegen sie? Wie schwer ist es, der Gerechtigkeit im Kleinen und im Großen zum Durchbruch zu verhelfen!

Ist es vielleicht die Religion selbst, die einer anderen Welt, einer besseren Welt im Weg steht? – Manche unserer Zeitgenossen denken so, und so richtig verübeln kann ich es ihnen nicht.

Religion heißt so etwas wie Rückbindung: Unsere Kirche beruft sich auf Jesus Christus, auf sein Evangelium. Sie weiß um die Zehn Gebote und sie bekennt im Nizänischen Glaubensbekenntnis (EG 687) auch „das Leben der kommenden Welt“.

Christlicher Glaube lebt aber nicht allein von der Rückbindung, sondern auch vom Blick in die Zukunft, der Vorwegnahme, mit dem Fremdwort: Von der Antizipation.

Der Text aus dem Prophetenbuch nimmt vorweg, was auch unsere Zukunft ist.

Ich sage das so bestimmt und überzeugt, weil ich ansonsten andere Annahmen meiner Lebensgestaltung zugrunde legte. Die Annahmen hießen dann: „Die Welt geht den Bach runter“, „ich allein kann doch nichts machen“, „wer die Macht hat, hat das Recht“. Diese Überzeugungen sind verbreitet, nicht erst in seit diesem Jahrhundert.

Der aus Polen stammende englische Schriftsteller Joseph Conrad entfloh dem Einflussbereich des zaristischen Russlands. Er fuhr zwei Jahrzehnte zur See, wovon er sich die große Freiheit erhoffte. Doch Reisen bildet nicht nur, es ernüchtert auch. Conrad schrieb um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhunderts das Buch „Herz der Finsternis“. Er rechnete dabei mit dem brutalen belgischen bzw. europäischen Kolonialismus im Kongo ab. Auch sonst wirft Conrads Werk ein ernüchterndes, ja pessimistisches Licht auf die westliche Zivilisation und Kultur. Was er vorfand, als er sich dem Einfluss des Zarenreiches entzog, war nicht minder bitter.

Die Herausforderungen unserer Gegenwart haben also eine lange Vorgeschichte. Menschen, die Joseph Conrads Weltsicht teilen, müssen heute feststellen, dass die Spielräume für Selbstbesinnung und Korrekturen kleiner werden.

„Die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die welche murren, werden sich belehren lassen.“ Sagt uns der heutige Bibelabschnitt.

Von allein und von uns Menschen aus, wird das nicht gelingen. Das zeigt die Geschichte bis heute.

Wie aber dann?

Es bedarf zum einen der Vorwegnahme, wie die kommende Welt aussehen soll und zum anderen, einer Vorstellung wie der Weg dorthin aussehen kann.

Zum Ersten: Die kommende Welt ist gekennzeichnet durch ein Miteinander von Mensch und Schöpfung. „der Libanon soll fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden.“

Menschen werden Verstand annehmen, sie werden urteilsfähig. Sie nehmen auf, was sie sehen und hören, verarbeiten es und ziehen wohlüberlegte Schlüsse daraus. Sie wenden Macht nur dann an, wenn es der Gerechtigkeit und dem Frieden dient.

Dies Erste aber ist das Zweite und das Zweite ist eigentlich das Erste: An der Nahtstelle zwischen der Rückbindung, Religion und der Vorwegnahme, Antizipation, steht Jesus Christus, der uns beten lehrt: „Dein Reich komme“. Dort ist Jesus Christus, der Menschen zum Frieden befähigt.

Und entscheidend: Dort ist Jesus Christus, der sich kompromisslos auf Gottes Liebe zu dieser, unserer Welt einlässt. Dort ist Jesus Christus, der mit Hingabe liebt und lieber stirbt, als diese Liebe zu verleugnen.

Liebe Gemeinde,

die Botschaft des Propheten und die Botschaft Jesu Christi gilt uns allen. Sie stellt uns vor Augen was sein kann und sein soll und sein wird. In Jesus Christus ist vorweggenommen, was auch unser Menschsein bestimmen will. Die Sportlerinnen und Sportlerinnen sind ganz bei der Sache, wenn sie im Stadion kämpfen. Nichts kann uns hindern, ganz bei der Sache des Glaubens zu sein. Amen.


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