Beitrag für die Schwäbische Zeitung Friedrichshafen
Ich seh‘ etwas
Wer kenn es nicht, das Spiel „Ich seh‘ etwas, was du nicht siehst und das ist …“? Einer fasst einen Gegenstand ins Auge und lässt das Gegenüber raten, was er gerade anschaut: Eine Tasse oder ein Schiff oder einen Baum oder, oder.
Nicht immer sehe ich, was meine Enkelin sieht. Sie sieht ein Gesicht in einer Wolke, ich nicht. Und andersherum: Ich sehe eine Gefahr im Straßenverkehr, mein Enkel nicht. Manche Menschen sehen etwas kommen, andere nicht.
Vielleicht haben Sie in den letzten Tagen ein Krippenspiel angesehen oder die Weihnachtsgeschichte nach Lukas gelesen. Am morgigen Sonntag geht es weiter im Text: Ein alter Mann taucht auf. Er wünscht nichts mehr als in Frieden gehen zu können. Es geht ihm nicht (mehr) um sich selbst. Er sorgt sich um die Welt um ihn herum.
Manchmal geht der alte Mann – Simeon heißt er – in den Tempel. Heute trifft er dort Maria und Josef mit dem Säugling Jesus. Da beginnt sein Gesicht zu leuchten. Er nimmt den Kleinen auf den Arm, lobt Gott und sagt: „Meine Augen haben deinen Retter gesehen. Heil für alle Menschen und Völker geht von ihm aus.“
Wie lange Simeon nach diesem beglückenden Ereignis noch gelebt hat, erfahren wir nicht. Aber wir erfahren, dass er in Frieden gehen durfte.
Alte Menschen sehen anders, bisweilen auch mehr. Auch dann, wenn die natürliche Sehkraft nachgelassen hat. Anderes wird ihnen wichtig.
Simeon hat etwas gesehen, was andere nicht sahen. Manche mögen ihn für einen verrückten Alten gehalten haben. Andere halten die Geschichten der Bibel für überholt. Ich hingegen freue mich, diese Geschichte heute lesen zu können. Es ist eine Geschichte gegen das Unheil, das mir beinahe tagtäglich vor Augen geführt wird: Gut, Simeon, dass du für uns noch etwas anderes siehst!